Auf dem Deckblatt des lyrischen Bilderbuchs Djur som ingen sett utom vi (Tiere, die keiner außer uns gesehen hat, 2016) von Ulf Stark und Linda Bondestam finden wir die beiden Tiere „Liten“ (klein) und „Stor“ (groß). Laut der Titelseite handelt es sich dabei um zwei Tiere, „die niemandem sagten, wer sie sind“. Diese beiden und die anderen unsichtbaren Tiere führen ihr Dasein auf den Seiten des Poesiealbums, ohne dass sie durch Forderungen nach Sinn und Zweck gestört werden. Dem Bilderbuch fehlt auch die chronologische Abfolge, die für die Fabel so charakteristisch sein soll (Leibfried 2016). Trotz des Titels geht es in dem Bilderbuch nicht um bedrohte und unbekannte Tierarten. Stark und Bondestam beschreiben im Verse und Illustration nicht das Aussehen und die Konstitution der Mosaiklibelle im Feld oder der Natter, die sich beim Waldausflug eines Wanderers in den Schutz verdorrter Blätter schleicht. Vielmehr zeigen die Gedichte, die durch die Illustrationen in Szene gesetzt werden, die menschliche und schwer fassbare Natur unseres täglichen Lebens. Die Tiere werden zu Sinnbildern für verschiedene Stimmungslagen: Einsamkeit (Eskalopen und Bombomen), Erstaunen (Lummalin), die Fähigkeit, das innere Tier und/oder die innere Pflanze freizusetzen (En Annan), Einheit (Kakakerna), Vitalität (Bipolaren), Sehnsucht nach Freiheit (Nomadinen), der Traum, jemand anderes zu sein (Klumpantropus), die Fähigkeit, mit dem Leben zufrieden zu sein (Gulalan), die Liebe zur Natur (Doranen), die einzigartige Freude an einem besonderen Erlebnis (Celansetten) und der Optimismus derjenigen, die hohe Erwartungen haben (Daglingen). Ella Andrén schreibt: „Det vilar något djupt mänskligt och komplext över dessa nästan osedda djurfilurer. Något som gör att dessa dikter och bilder kan roa och slå rot hos såväl barn som vuxna” [„Es gibt etwas zutiefst Menschliches und Komplexes an diesen fast unsichtbaren Tierfiguren. Etwas, das es diesen Gedichten und Bildern erlaubt, sowohl Kinder als auch Erwachsene zu amüsieren und sich in ihnen zu verwurzeln“], in einer Rezension mit dem aussagekräftigen Titel „Knasigt, komplext och alldeles underbart“ (Eigenwillig, komplex und absolut wunderbar!, Andrén, 2016).
Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, was passiert, wenn wir das Bilderbuch (seine Gedichte und Illustrationen) mit der besonderen rhetorischen Energie im Fokus lesen, die entsteht, wenn wir die Seiten des Buches umblättern, den Geruch der Tinte spüren und die Farben auf uns wirken lassen, während wir am rhythmischen Klang der Worte teilnehmen (Källström 2022, 2023). Das Umblättern wird zu einer Form der Technik, zu einer erlernten Tätigkeit und gleichzeitig zu einer formativen Aneignung. An diesen Prozessen ist der Leser selbst beteiligt (Field, 2019; Kümmerling-Meibauer & Meibauer, 2019; Müller-Wille 2017, 2020). Das bedeutet, dass wir uns für die so genannte kulturell geprägte (kodierte) Materialität des Buches interessieren, d. h. dafür, wie das Buch als greifbares Objekt innerhalb bestimmter sozialer und historischer Kontexte im alltäglichen Gebrauch Gestalt und Bedeutung erhält. Auch der Blick des Lesers ist ein wichtiger Aspekt dieser Materialisierung (Källström 2022, 2023).
Über die finnische Illustratorin und den schwedischen Autor
Linda Bondestam, (1977-), hat mehrere Auszeichnungen für ihre Kunst erhalten. Sie wurde für den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis nominiert. Für ihr Buch Min egen lilla liten - auf Deutsch erschienen bei Fischer Sauerländer unter dem Titel Graugrau und Fünkchen - erhielt sie den Finlandia Junior Prize. Zusammen mit Ulf Stark wurde sie im Herbst 2017 für das Buch Djur som ingen sett utom vi mit dem Nordischen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Ulf Stark (1944-2017) war einer der führenden schwedischen Kinder- und Jugendbuchautoren. Er debütierte 1964 mit einer Gedichtsammlung namens Ett hål till livet. Erst 1975 wurde sein erstes Kinderbuch Petter och den röda fågeln veröffentlicht. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit dem Kinderbuch Dårfinkar och dönickar (1984), mit dem er den Kinderbuchwettbewerb von Bonniers Juniorförlag gewann. Mehrere von Ulf Starks Büchern tragen autobiografische Züge und sind in seinem Heimatort Stureby angesiedelt, wo er aufgewachsen ist. Aus seiner Zusammenarbeit mit Linda Bondestam sind mehrere Bilderbücher hervorgegangen.
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Dr. Lisa Källström ist Bildrhetorikerin an der Universität Södertörn. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der politischen Signifikanz von Bildern am Schnittpunkt von ästhetischem und rhetorischem Ereignis. In dem Projekt 'Pippi jenseits der Mauer' diskutiert sie mit der Historikerin Ines Soldwisch (Heinrich-Heine-Universität) die Rezeption von Pippi Langstrumpf in der DDR (gefördert von der Ostseestiftung). In "Putte und Pippi in der Welt" diskutieren Källström und Petra Bäni Rigler über die visuellen Transformationen zweier schwedischer Kinderbuchfiguren (gefördert von Ridderstad).
Literature:
Stark, Ulf & Linda Bondestam. Djur som ingen sett utom vi. Stockholm: Förlaget Bergh,2016.
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André, Ella. Knasigt, komplext och alldeles underbart. Dagensbok.com,2016. Tillgänglig:Knasigt, komplext och alldeles underbart | dagensbok.com
Bjørlo, Berit Westergaard. Illustrerte dikt: Bildeboka som arena for barnepoesi. Barnelyrikk: En antologi. Anne Skaret. Vallset: Oplandske Bokforlag, (2015) 105–124.
Field, Hannah. Playing With the Book: Victorian Movable Picture Books and the Child Reader. Minneapolis: University of Minnesota Press, (2019).
Leibfried, Erwin. Wort und Begriff der Fabel. Fabel. Sammlung Metzler. Stuttgart; J.B. Metzler, 2016.
Källström, Lisa. Lyssna, hör du dem kvittra och ryta. Bilderboken som fabelövning [Lausch, sie zwitschern und brüllen. Das Bilderbuch als Fabel]. Är man två har man alltid en publik. Festskrift till Lennart Hellspong [Zu zweit gibt es immer ein Publikum. Festschrift für Lennart Hellspong]. Lisa Källström & Anders Sigrell. Lund: Mediatryck, (2022) 233–248.
Källström, Lisa. Pippi aus dem Rahmen: Die Einrahmung als bildrhetorisches Phänomen. Kids+ Media: https://doi.org/10.54717/kidsmedia.12.1.2022.4, 2023.
Kümmerling-Meibauer, Bettina & Jörg Meibauer. Picturebooks as objects. Libri & Liberi, (2019) 257–278.
Müller-Wille, Klaus. Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn: Wilhelm Fink, 2017.
Müller-Wille, Klaus. ”Das Lesen neu erfinden.” Konzepte, Analogien, Beispiele. Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung: Aktuelle Positionen und Perspektiven. Red. Ute Dettmar et al. Berlin: J.B. Metzler (2020), 11–26.