Das Leben und Wohnen in den sog. Neubaustädten der ehemaligen DDR wurde vor und nach 1989 unterschiedlich verhandelt. Während noch bis 1989 die Wohnsilos als Errungenschaften der Moderne betont wurden, veränderte sich das Bild nach 1989. Die Häuser verwahrlosten, viele Menschen wählten ein neues Wohnumfeld und das Einfamilienhaus gewann an Bedeutung wie es bspw. Björn Stephan in seinem Roman Nur vom Weltraum ist die Erde blau (2021) beschreibt. Mit diesen Veränderungen einher erlebten auch Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern große Brüche. Seit einigen Jahren beschreiben Autor:innen, die noch die letzten Jahre der DDR als Kinder bzw. als Jugendliche erlebt haben, die unterschiedlichen Transformationsprozesse des Wohnens und der Familienverhältnisse in ihren Romanen. Ausgehend von dem dokumentarischen Roman Kinder von Hoy (2023) von Grit Lemke sowie dem mehrfach ausgezeichneten Jugendroman Kollektorgang (2023) von David Blum soll untersucht werden, wie über die Wohngebiete der Kindheit vor und nach der Wende erzählt wird.
Lemke, die selbst in Hoyerswerda aufgewachsen ist, wählt einen fast nostalgischen Blick auf eine Gegend, die in den 1990er Jahren aufgrund rechtsradikaler Anschläge bekannt wurde. Blum dagegen verzichtet auf einen nostalgischen Blick, allerdings reflektiert auch sein Ich-Erzähler, wie die Eltern vor der Wende gelebt haben. Im Vortrag fokussieren wir uns auf die Analyseder Texte. Dies erscheint uns umso wichtiger, als die Grenze zwischen Fakt und Fiktion in diesen von einem nostalgischen Unterton geprägten ‚Dokumentationen‘ zu zerfließen droht. Beide Bücher können als ‚Coming-of-Age‘-Bücher interpretiert werden (Kümmerling-Meibauer 2008; Lötscher 2022).
Theoretisch knüpfen wir an den Begriff der Nostalgie an, der in der Diskussion über die Ost-Nostalgiein den Mittelpunkt gerückt ist. Der Rhetoriker Timothy Barney (2009) betont, dass Nostalgie zwar oftals gefährliche Sehnsucht nach einer mehr oder weniger imaginierten Vergangenheit angesehen wurde, die von einem totalitären Regime für reaktionäre Zwecke ausgenutzt werden kann, dass sie aber genauso gut als Versuch interpretiert werden kann, sich mit dem, was ist, auseinanderzusetzen, um dann gemeinsam die Weichen für eine bessere Zukunft zu stellen. Ausgehend von diesem Gedanken fragt sich Barney, ob Nostalgie als treibende Kraft für den sozialen Wandel genutzt werden kann. Mit Barney fragen wir, ob Nostalgie ein Weg sein kann, Frustration und Unzufriedenheit kollektiv abzubauen, weil sie ihren Antrieb aus Erinnerungen bezieht, die wir mit anderen teilen, und damitnicht nur als etwas Reaktionäres oder bloß Sentimentales abzutun. Diese Interpretation des Konzeptsverlagert den Schwerpunkt von dem Versuch der Autor:innen oder der Illustrator:inen, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, auf eine komplexe, Kulturschaffende Erfahrung, die durch einen soziokulturellen Kontext motiviert ist. Es heißt, dass Nostalgie ausgelöst wird durch ein Bedürfnis, sich die Welt anders vorzustellen (Källström 2020). Nostalgie kann sowohl im Sinne eines schmerzhaften Heimwehs (aus dem Griechischen nostos ‚Heimkehr‘ und algos ‚Schmerz‘) als auch einer sentimentalen Sehnsucht nach der Ferne (und hoffentlich bessere) Zukunft verstanden werden, die durch die beiden deutschen Wörter ‚heimweh‘ und ‚fernweh‘ anschaulich wird.
Primärliteratur:
Blum, David. Kollektprgang. Beltz & Gelberg, 2023.
Lemkes, Grit. Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp, 2023.
Stephans, Björn. Nur vom Weltraum ist die Erde blau. KiWi, 2022.
Sekundärliteratur:
Barney, Timothy. „When We Was Red: Good Bye Lenin! and Nostalgia for the Everyday GDR.” Communication and Critical / Cultural Studies. Volym 6, 2009.
Källström, Lisa. Pippi mellan världar. En bildretorisk studie, 2020.
Kümmerling-Meibauer, Bettina: „Crosswriting und Mehrfachadressiertheit: Anmerkungen in derKinderliteratur“, in: Bernhard Metz und Sabine Zubarik (Hgg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Kulturverlag Kadmos, 2008, S. 277–296.
Lötscher, Christine: Anders Erzählen, Anders Denken. Coming Of Age im Anhropozän. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde / archives suisses des traditions populaires 118. Jahrgang (2022), Heft 1, s. 7–19. URL:https://www.chronos-verlag.ch/sites/default/files/einblick_4.pdf